Rennbericht von Holger Rulle

Es gibt Veranstaltungen, von denen hat man lange vorher gehört, bevor man sie dann einmal selbst unter die Räder nimmt.

Ich habe die Geschichten noch gut in Erinnerung, die mir Wolfgang P. bereits im alten Jahrtausend erzählt hat, von den Massen an Teilnehmern, den Abfahrten bei Regen und Kälte oder dem nie zuvor gehörten Begriff „Labestation“.

Wenn ich also zurückdenke, dass ich mit den Mühen der Umschreibung in 2013 das erste Mal einen Startplatz hatte, ihn aber wegen meines verheerenden Unfalls 6 Wochen vorher nicht antreten konnte, dann hatte ich wirklich lange Zeit, den Mythos „Ötztalradmarathon“ gedanklich anzufüttern.

Die intensivere theoretische Vorbereitung war vor allem durch die Erfahrungen und Ratschläge meiner Freunde Claus und Günter gespeist. Nicht zu vergessen die gewonnene Erfahrung durch Teilhabe an Axels Trondheim-Oslo Team (Heinemann XP). Die wertvollen Hinweise zur Materialwahl, Renneinteilung, Gefahren, Streckenbesonderheiten und Ernährungstaktik haben mir eine ziemlich konkrete Vorstellung gegeben, was mich erwartet.

Das Wiedersehen mit dem Jaufenpass, den ich von einem Solo-Alpen-Crisscross wiederkannte und die Streckenkenntnis am Timmelsjochs von einer Trainingstour im Sommerurlaub ´13 hat mir mentale Abwechslung und Kopfkino verschafft, was man bei 1821 Höhenmetern am Stück gut brauchen kann.

Das Furchtbarste aber ist eigentlich das frühe Aufstehen um 04.00 Uhr und die pervers lange Wartezeit im Startblock, die nötig ist. Denn je weiter vorne man steht, umso größer die Chance, Unfällen zu entgehen. Das Warten war allerdings durch die professionelle Moderation kurzweiliger als gedacht. Auch das Leutegucken bietet einiges an Ablenkung und das ist nicht ausschließlich die Attraktion von Athletinnen in engen Klamotten, obwohl das ein durchaus netter Aspekt des Radsports ist. Daneben gibt es Material zu bestaunen und Gespräche zu lauschen, die Aufschluss geben, was dieses nicht ganz „normale“ Klientel so denkt.

Wie immer ergreift mich beim Start die Atmosphäre ziemlich stark, wenn viel Publikum Stimmung macht und das schon zum Sonnenaufgang in dieser prächtigen Bergwelt. Die Freudentränchen müssen aber schnell wieder abgestellt werden, da das Feld mit ein paar Minuten Verzögerung in Bewegung kommt, die schnell auf 40 km/h und mehr im Ort anwächst. Da braucht es klare Sicht.

Die mehr als 30 km talwärts nach Ötz finden zwar auf einer Bundesstraße mit mindestens sieben Meter Breite statt, aber ein paar Engstellen an Verkehrsinseln und Kreisverkehren sorgen bei der Masse an Teilnehmern für Gefahren. So war es auch nur eine Frage der Zeit, wann der erste auf dem Asphalt lag. Kurz vor Ötz hieß es, Armlinge abrollen und Windweste ausziehen, denn der Anstieg zum Kühtai beginnt sofort im Ort.

Dort lag alles voll mit Zeitungspapier, was mir vor Augen führte, dass unsere Vorväter nicht blöd waren und Windstopper nicht immer eine Hightech-Membran sein muss. Das spart Platz in den Trikottaschen.

Der Anstieg lag mir ausgesprochen gut und Überholen stärkt das Selbstbewusstsein. Auf halber Höhe grüßt mich einer mit Namen und kommt ran. Seit zwei Jahren hatten wir nach einem Disput kein Wort mehr gewechselt, weil ich auf den Freund sauer war, da der nur Business im Kopf und lange nicht mal Zeit zum Reden hatte. Da tat der lange Händedruck und Bussi bei 10% Steigung gut – beide völlig bekloppt. Danke Niklas!

Oben am Pass war die Hölle los: Fans, Supporter und Personal an der Labe, die ich allerdings rechts liegen ließ, da ich mit mehr als 2200 kcal in der Kippe losgefahren war. Also nur Müll-Dumping, Weste anziehen, schließen und rein in die Abfahrt, die sofort richtig schnell wird. Später wächst das Gefälle auf 16% an und man erreicht 100 km/h ohne zu treten, was meine 50 x 12 Übersetzung auch gar nicht mehr ermöglichen würde. Vorsicht war bei den Einfahrten in dunkle Galerien geboten. Der Lichtwechsel geht verflucht schnell. Am Eingang sind Kuhroste, damit im Halbschatten kein Rindvieh nonverbal sagt: „Du kommst hier nicht rein!“.

In der vorletzten Galerie wurde vor einem Unfall gewarnt. Der arme Teufel lag auf der Vakuummatratze, das Rad komplett zerstört und der eigentlich positiv assoziierte Kerosingeruch des eben gelandeten Helis lag in der Luft. Gute Besserung – wie ich später bei der Rennleitung erfuhr, wurde er mit Kieferbruch und ansonsten marginalen Kopfverletzungen, aber anscheinend heiler Wirbelsäule nach Bozen geflogen. Wieder eine Situation, in der man das Geschehen nicht zu nah an sich ranlassen darf, dennoch denkt man bisweilen, ob die eigene Gabel und die Reifen wohl halten…

Die Einfahrt in die „Outskirts“ von Innsbruck machen sogleich Laune, da dort überall Menschen von jung bis alt stehen, die am frühen Sonntagmorgen anfeuern und „good vibes“ verbreiten, die dich zum Bernard Hinault verklären. Die Passage war nur kurz, ein goldenes Dachl gab`s nicht zu sehen und ich war in der Ausfahrt der Stadt vorn in der Gruppe. Ein paar hundert Meter vor uns tauchte eine noch größere Gruppe auf, zu der ich uns zügig heranführen konnte. Aus diesen formierte sich alsbald ein Teil, der den allenthalben beschworenen 30er-Schnitt zur Passhöhe ermöglichen sollte. Jeder weiß, dass man hier Körner sparen muss und eine Gruppe braucht, die renntaktisch an einem Strang zieht.

Oben am Brenner war mein erster „Labestop“ nur von kurzer Dauer. Flaschen füllen, Banane hinterschlucken, entsorgen und schnell wieder raus aus der Boxengasse. Im Gefälle nach Sterzing in ein Grupetto einfädeln, welches sich nach gar nicht so kurzer Abfahrt auf dem Flachstück bis zum Beginn des Anstiegs zum Jaufenpass wieder Windschatten zum Körnersparen geben konnte. Da war ich vielleicht ein bißchen viel im Wind, habe aber stets langsam bis 30 gezählt, sodass ich nie mehr als eine Minute Führungsarbeit geleistet habe.

Im Jaufenanstieg fährt man lange im schattigen Wald der Nordflanke des Berges. Die längste Zeit konnte ich meine 10 km/h gut treten, aber der Bauch fühlte sich immer verkorkster an. Es ist das Gefühl, dass der Bauch voller wird und der Körper aus dem Gel nicht schnell genug die Energie aufnimmt. So wurde ich vor der Baumgrenze langsamer bis etwa 7 km/h und musste ein Pärchen ziehen lassen, das wie ein Schweizer Uhrwerk hochtrat. In dieser Schwächephase, man konnte die Seibahnstation schon sehen, kam grüßend der junge Sebastian vorbeigeflogen. Es macht einem immer ein Quentchen mehr aus, wenn man die Überholenden auch noch kennt.

Der Plan war nun, an der Labe ein paar Minuten länger zu verweilen und dem Körper Verdauungszeit ohne Last zu geben. Das Austreten dort mündete in das Eintreten in einen Kuhfladen und so gab es noch ein paar Extraminuten am Wasserschlauch, um die Alpenkräuterrückstände vor Ort zu belassen.

Weiter ging es, noch 2,5 Serpentinen bis zur Passhöhe und hinein in die geile Abfahrt hinunter ins Passeiertal nach St. Leonhard, wo man von oben beinahe Meran sehen kann. Die Distanzen von Kehre zu Kehre sind gerade so lang, dass man keinesfalls so schnell wird wie am Kühtai. Man kommt in einen schönen Kurvenrhythmus aus „außen ansteuern, Kurvenscheitel an der Innenseite anpeilen, Bremse auf, raustragen lassen und im Wiegetritt beschleunigen“. Ach, wie das Flügel verleiht ganz ohne Taurin!

Kaum die Talsohle in St. Leonhard erreicht, zweigt man scharf rechts ab und es beginnt der lange Anstieg zum Timmelsjoch. Zunächst moderat mit ein paar Tunnel, ab Moos (gute Erinnerungen an die Wirtsleute des Café Maria wurden wach) wird es fruchtig und Wiegetritt tat not. Der Weg bis zum Paß beträgt 28 km mit 1821 Höhenmetern, bei Kilometer 18 ist eine Labe, die man nur noch mit einer gefüllten Flasche bis ins Ziel zu verlassen braucht.

Die Strecke wird einige Kilometer vor der Verpflegung etwas flacher. Hier kamen Femke und  Janno von hinten, denen ich mich anschloß, sodass wir mit dem großen Kettenblatt gut vorankamen und dabei viele andere rückwärts fahren ließen.

Unsere Pausenzeit war gleich lang. Wir zogen uns gemeinsam den Berg hoch. Ich konnte zwar irgendwann vorausfahren, aber in der Abfahrt waren wir wieder beisammen. Das obere Stück des Timmelsjochs ist ausgesetzte Felslandschaft, die Passhöhe hat 2509 m und bildet so das wahre goldene Dachl für jeden, der es bis hierher schafft. Putzig ist der Tunnel, durch den man dann oben den Berg horizontal durchquert – herrlich kühl und feucht, die Felswände frisch geweißelt, bevor ein letzter Minianstieg zur Passhöhe genommen werden muss, um dann durch den Red-Bull Bogen zu fahren. Das Tor zu einer fantastischen Abfahrt mit bestens dimensionierter Straßenbreite und Kurvenradien, die nur wenig Bremsen erfordern. Der Blick wird weit und man sucht unwillkürlich nach Rindviechern auf der Gasse, vor denen wir gewarnt wurde. Aber man erspähte nur eine Lichtschranke bei einem einsamen Auto, wo die Teilnehmer mit Speed-Stempel im Foto abgelichtet wurden.

Anschließend gehen die sanften Kurven in eine Gerade über und am Horizont taucht der Gegenanstieg zur Mautstation auf. Hier kann man ungehemmt reinhauen, die Steigung zerrt das Geschwindigkeitsguthaben eh nach kurzem wieder auf und das Gebäude des Top Mountain Museums will einfach nicht in Sicht kommen. Hier beschwerten sich meine Beinmuskeln rechts das erste Mal.

Krampfankündigungen lassen sich ohne helfende Fachkraft am besten mit einem höheren Gang im Stehen wegtreten, wobei man die inneren Ohren spitzt, wie die Bewegung des Fußes auf seiner Umlaufbahn ausgeführt werden muss, um dem Muskeltonuns-Supergau zu entgehen. Insbesondere in der Steigung zum Timmelsjoch standen sehr viele in den Kurven und hielten ihre Beine, drückten, massierten und dehnten.

Dank der Vorbelastungstour mit meinem Spezi Roland von Samstag, hatte ich ab der Maut Streckenkenntnis für die folgenden sieben Kilometer bis ins Ziel. Hier war ich mit den beiden Holländern wieder vereint und wir haben in der langen Geraden von Obergurgl druckvoll gekurbelt, sodass andere vor uns plötzlich wieder rückwärts fuhren. Leichter Regen setzte ein, der jedoch die Straße nicht wirklich naß machte.

Dann kam eine Galerie, in der am Samstag noch ein Motorrad nach einem Unfall lag. Ich habe inständig gehofft, dass das ausgelaufene Öl erfolgreich entfernt werden konnte. Wir sausten wie Thomas Morris Moritz im Freifall talwärts und mußten nach dem Ortsausgang Zwieselstein den Schwung nutzen, um den letzten Gegenanstieg zu überfliegen und ab der Ortsfeuerwehr in die Ortslage von Sölden zu schießen.

Ein geiles Gefühl, zu wissen, dass man es vollbracht hat, und was dem Tour de France Fahrer die Champs-Élysées, das ist dem ÖRM seine Dorfstraße, die von begeisterten Zuschauern gesäumt wird, die auch dem 4000sten Finisher noch Anerkennung mit Applaus und Jubel zollen.

Da stürmt man gerade noch mit 50 Klamotten durch das Alpendorf und schon kommt der Rechtsknick über die wild gurgelnde Ache und die Messmatte am Zielstrich piept und weckt einen aus dem Traum, dass es soeben Zeit zum Aufwachen ist.

Der Mythos ist nun selbst erfahren und reizt durchaus zur Wiederholung. Schaun mer mal, dann sehn mer scho.

Ich bin mit 9:14 h sehr zufrieden und habe mich vorher anscheinend realistisch mit einer Zielzeit zwischen 9 und 9,5 Stunden eingeschätzt.

Wenn man so der Siegerehrung beigewohnt und dabei selbst in der Masters III Kategorie saustarke Zeiten präsentiert bekommen hat, dann kommt man aus dem Staunen nicht mehr raus. Meine Zeit hätte zum 5. Platz der 60 bis 69jährigen gereicht.

Der Frauenanteil lag im einstelligen Prozentbereich, 300 Starterinnen unter 4000 sind nicht gerade viel, aber umso mehr Respekt haben gerade diese Amazonen verdient.

Der ÖRM 2017 ist damit Geschichte, aber unauslöschlicher Teil im persönlichen Gedächtnis-Album geworden und richtig schee war`s mit all den anderen die gemeinsame Radsportleidenschaft zu zelebrieren!

Holger


Ergebnisse

Holger Rulle: 476. AK / 868. Gesamt / 09:14 h

Markus Simon: 619. AK / 1106. Gesamt / 09:29 h